Hamburgerinnen und Hamburger feiern mit der Bürgerschaft 100 Jahre Wahlrecht für alle

Großer Erfolg am „Tag der Stimmen“ der Bürgerschaft: Mehr als 3.700 Hamburgerinnen und Hamburger kamen am Sonnabend zum Fest anlässlich des 100. Jahrestages der ersten allgemeinen, gleichen und geheimen Bürgerschaftswahlen ins Rathaus. Sie besuchten unter anderem eine der sechs Aufführungen des Dokumentarstücks „Demokratie!“ von Michael Batz, lernten Abgeordnete beim Speed-Dating kennen, besuchten Lesungen und Diskussionen oder waren beim Mitmach-Chor von „Hamburg singt“ mit dem Auftritt des Sänges Pohlmann mit dabei.

Gemeinsam mit drei Kolleginnen aus der SPD-Bürgerschaftsfraktion habe ich hier Ausschnitte aus Reden der ersten SPD-Abgeordneten der Hamburgischen Bürgerschaft vorgetragen.

In historischen Kostümen bei der Lesung zu 100 Jahre Wahlrecht für alle.

Bei meinem Beitrag handelte es sich um die Rede der SPD-Bürgerschaftsabgeordneten Marie Jucharcz zur „Verhandlung des Reichstages zur Liberalisierung der Gesetzgebung zur Abtreibung oder Streichung des § 218“ vom 7. Mai 1926:

„Meine Herren und Damen! Ich möchte hier zum Ausdruck bringen, dass in dieser ganzen Frage aneinander vorbei geredet worden ist. Das ist eine Tatsache. Als zweites möchte ich feststellen, dass bei dem, was gegen unseren Antrag vielleicht gesagt worden ist, ein großes Stück Heuchelei mitspricht. Ich kann es nicht anders bezeichnen. Dieses Aneinandervorbeireden, dieses Nichtverstehenwollen, verbunden mit einem Stück politischer Heuchelei, ist es, das die Atmosphäre in dieser Debatte vergiftet. Bei unserem Antrag…

  • Zuruf von rechts- 

…also bei dem Antrag des Ausschusses gehen wir bei unseren Ansichten von dem Faktum der tatsächlichen Zahl der Abtreibungen aus.

Wer würde sich im ganzen Reich überhaupt um die § 218 und 219 kümmern, wer würde daran denken, ihre Aufhebung zu verlangen, wenn dieses Faktum nicht vorhanden wäre! Damit müssen Sie rechnen. Sie tun so, als wenn die Parteien, die dafür eingetreten sind, dass die Frauen nicht bestraft werden, die sich zu dem Schritt der Abtreibung entschlossen haben, die Abtreibung fördern wollten. Das ist nicht der Fall. Wenn Sie selbst feststellen, dass wir in Bezug auf die Forderung sozialer Maßnahmen in dieser Debatte hier – nicht in der Tat, nicht bei den politischen Entscheidungen – einer Meinung sind, dass weiß ich nicht, wie Sie dazu kommen, uns zu sagen, dass wir die Abtreibungen fördern wollen und dass wir die Tötung wollen. 

Das ist nicht der Fall. Wir stehen auf dem Standpunkt der Verantwortlichkeit, wie es der Herr Pfarrer Ulitzka hier gesagt hat. Es ist aber ein kleiner Unterschied dabei…

  • haha und Heiterkeit rechts –

…Jawohl, es ist ein kleiner Unterschied dabei: Wir wollen auch, dass das Verantwortungsgefühl der Männer gestärkt wird, und ich füge hinzu, auch das Verantwortungsgefühl der Frauen. Aber es sind ja auch nicht die schlechten, verantwortungsvollen Frauen, die in ungeheuren Seelenkonflikten zu Schritten kommen, die das Strafgesetzbuch bestraft. Es sind die Frauen der Arbeiterklasse, die unter der ungeheuren Wohnungsnot leiden, wie es überhaupt niemand ermessen kann, der es nicht selbst durchgemacht oder aus allernächster Nähe beobachtet. Es sind die Frauen, die genau wissen: das neue Leben, das jetzt kommen soll, wird in dieser engen Wohnung unter den unhygienischen Verhältnissen, die uns durch die enge Wohnung aufgezwungen sind, leiden, das neue Wesen, das geboren werden soll, wird unter der Arbeitslosigkeit des Mannes, unter dem kleinen Einkommen leiden, es wird ein Dasein des Hungers zusammen mit seinen Geschwistern, finden. Und dieses Verantwortungsgefühl ist es doch, das in den minderbemittelten Schichten die Frauen zu solchem Schritt treibt. Es sind Verzweiflungsschritte in Tausenden von Fällen, das wissen wir genau, und das müssen auch Sie wissen. Und zu diesen Schritten der Verzweiflung soll dann die drakonische Bestrafung kommen. Das ist es, wogegen wir uns wenden.

Bessern Sie mit uns die sozialen Verhältnisse. Helfen Sie uns die Wohnungsnot abbauen. Helfen Sie bei der Erwerbslosenfürsorge! Die sozialdemokratischen Anträge beweisen es Ihnen, dass wir dauernd Wege suchen, um diese soziale Not zu mildern.“

Die Abstimmung zum Antrag aus dem Rechtsausschuss ergab 173 Nein-zu 214 Ja-Stimmen. Die politischen Lager der Konservativen befürchteten eine Verrohung der Sitten und die Nationalisten das Aussterben des eigenen Volkes. Erreicht wurde 1926 lediglich, dass Abtreibung nicht mehr mit Zuchthaus, sondern „nur noch“ mit Gefängnis bestraft wurde. Im Jahr 1927 gestand das Reichsgericht Schwangeren das Recht auf einen Abbruch zu, wenn ihr Leben in Gefahr war.


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